ZEICHEN DER ERINNERUNG

Alles, was wir tun, wird in das große Buch der Zeit vergeht, geschrieben, natürlich nicht Wort für Wort und Tat für Tat. Die Zeit verdichtet unsere Taten zu Zeichen und legt den Schleier des Vergehens über sie. Wer die Zeichen und ihre Spuren zu lesen versteht, kann Erinnerungen aufleben lassen.
Lilo karsten gehört zu den Menschen, die immer wieder Zeichen und Fragmente entdecken. Wer sie kennt, weiß, dass sie eine Sammlerin ist. Nicht der Wunsch nach Besitz leitet sie, nicht die Rarität oder der Wert eines Gegenstandes erregen ihr Interesse. Intuition führt sie, ganz alltägliches, Weggeworfenes, Unbeachtetes erregen ihr Interesse. viele von diesen heimatlosen Dingen beginnen ein neues Leben in ihrer Kunst.
In ihrer jüngsten Arbeit in der Galerie der Künstlervereinigung Dachau zeigt sie Kartoffelsäcke mit originalen Flickstellen aus ihrer Sammlung.
Lilo karsten entdeckte in den Flickstellen Zeichnungen, die ganz ohne Absicht in den groben Stoff hineingenadelt wurden. Sie befragte die Bauern in ihrer Umgebung nach dieser Arbeit und erfuhr,
Dass die Frauen, spezielle, lange Nadeln und eine Art Wurstfaden für diese Arbeit benutzten. Die Künstlerin hat beim betrachten der Säcke auch durch ihre Finger schon eine Vorstellung von der Art dieser Arbeit gewonnen. Erinnerungen werden in ihr wach: was für Hände muss ihre Mutter gehabt haben, als sie als Soldatenmänteln Winterjacken für ihre Kinder nähte?
Der Geruch, der den Säcken entströmt, erinnert an den Herbst, wenn die Kartoffeln aus dem Boden kamen und in den Höfen lagen, aber auch an den Moder, an alte Keller, an das Ende des Winters. ihre Mutter hatte die selbstgenähten Kinderjacken mit ein getrocknet der Tinte gefärbt, um die grau-grüne Kriegsfarbe dem vergessen, näher zu bringen.
In Lilo Karstens Zeichnungen finden wir diese Geschichten auch wieder. oft sind es die Figuren von Frauen, die ihre Bilder bestimmen, sie sind meist stark und stolz. Sie beschwören unsere Vorstellungen mit immer neuen Metaphern.
Die Arbeiten von Lilo Karsten geben der Alltäglichkeit ihre Bedeutung und weisen Bedeutendes in seine Alltäglichkeit zurück.

Monika Müller-Rieger, München 1994