Lilo Karsten ist eine Astronautin, eine Raumfahrerin. Im geografischen Sinn, das auch, aber vor allem im ästhetischen Sinn. Sie erkundet Räume, von denen man bisher keine Vorstellung hatte, sie entdeckt Zwischenräume, sie schafft Transiträume, in diesen Räumen gelten verschiedene Gesetze gleichzeitig, oder gar keine Gesetze oder zumindest ganz andere als die gewohnten.
Dabei spielen die Grenzen eine entscheidende Rolle, der Bildrand. Auf vielen der Bilder hier gibt es Gedränge an den Rändern, Formationen, die raus wollen. So dass manchmal sogar eine zweite Leinwand nötig ist, um dieser Entwicklung nach draußen, ins Offene Raum zu geben. Eine potentiell unendliche Bewegung. Will Lilo Karsten den Rahmen sprengen? Ich glaube nicht. Denn der Rahmen bietet auch Schutz. Er entspricht der Begrenztheit unserer Möglichkeiten – und nur wenn man die Grenzen erkennt und sich mit ihnen auseinandersetzt, erfährt man Neues. Das ist ein paradoxer, endloser Prozess. Lilo Karstens Arbeiten sind Stationen dieses Prozesses.
Dabei spielt Natur eine große Rolle, vielleicht weil sich in der Natur Begrenztheit und Unbegrenztheit ständig überlagern, Gegenwart und Zukunft. Das, was ist, und das, was möglich ist.
Lilo Karsten arbeitet mit naturgegebenen Materialien. Die Bildgründe sind mit Eitempera gemalt, Früchte, Blätter, Zweige sind durch Frottage-Technik in die Bilder verwoben. Die natürlichen Formen lassen ihre konkrete Herkunft hinter sich, wachsen in neue Zusammenhänge. Dabei verwandelt sich die Welt. Und unser Blick auf die Welt.
Die Frage: Ist das realistisch, gegenstandslos oder abstrakt? erübrigt sich. Es ist alles. Berliner Luft, ja natürlich. Der Abendhimmel im Grunewald, ja natürlich. Der Blick durchs Mikroskop auf eine Bazillenkultur, ja natürlich, unendliche Durchmischungen von Blau, ja natürlich.
Es gibt immer wieder Farbfelder – leicht vibrierend, in sich bewegt -, die man mit Gefühlszuständen assoziieren kann – es sind aber auch ästhetische, um nicht zu sagen existentielle Herausforderungen: Was jetzt? Was machen mit diesem Raum? Mit diesem Moment? Mit diesem erhebenden oder unerträglichen Jetzt?
Auf diese Fragen gibt es keine Antworten – nur Figurationen, die die Unmöglichkeit von Antworten auszuhalten helfen: Ballungen, Materie, schwarze oder weiße, Energiefelder, Schwärme, Verknäulungen, Schraffuren. Das Leichte scheint schwer, das Schwere leicht? Es ist etwas im Gang. Will irgendwo hin. Oder von irgendwo weg. Diffundiert, wechselt den Aggregatzustand, sucht Halt. Oder die Loslösung vom Halt. Entwickelt sich. Es gibt Prozesse, Zwischenzustände. Transformationen. Oft mit einer Tendenz nach oben. Es öffnet sich etwas. Manchmal löst sich auch etwas auf. Hinterlässt Spuren, eine Hülle, oder einen Abdruck. Das, um was es geht, ist nicht mehr vorhanden. Gerade weg. Oder schon seit Ewigkeiten nie dagewesen. Egal, auf den Bildern ist es vorhanden, weil es weg ist. Das ist kompliziert, aber schön.
Es gibt auch klar umrissene Formen, oft von plastischer Präsenz, aber wenn man genau hinschaut, sieht man, dass die Linien so genau nicht sind, sondern präzise und unpräzise zugleich, so als ob sie signalisieren wollten: so ist es – nicht.
Ist das Malerei oder Zeichnung – auch diese Frage scheint dann unwichtig. Diese Arbeiten lassen die Kategorisierungen hinter sich. Sie sind klar in ihrer Unklarheit. Es entstehen Räume aus eigener Souveränität. Räume, in denen alles möglich ist. Und nichts sicher. Der Betrachter wird verstört, kommt ins Stolpern, aber gleichzeitig gibt es Impulse, das Stolpern in einen Tanzschritt zu verwandeln.
Berlin, Februar 2018, Ruth und Benedikt Gondolf